Theorie U in der Praxis: Impulse für die Personalentwicklung

Wie muss sich die Personalentwicklung verändern in einer Zeit, in der immer mehr Unternehmen nach Antworten auf die VUCA-Welt suchen? Brauchen wir (noch mehr) neue Methoden oder müssen wir unsere Einstellungen und Haltungen überdenken? Die Theorie U liefert mit den vier Ebenen des Zuhörens wertvolle Anregungen für eine erfolgreiche Personalentwicklung, die sich auf die Herausforderungen der Zukunft einstellt: Learning from the emerging future!

Wie zukunftsfit sind die aktuellen Konzepte der Personalentwicklung?

Dazu zählen das Wissen und die Kompetenzen, die für die erfolgreiche Bewältigung zukünftiger Herausforderungen benötigt. Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass man mit Standardwissen und -prozessen, keine komplexen Probleme lösen kann. Komplex und kompliziert ist eben nicht das gleiche.

Für ein kompliziertes (oder verständlicher ausgedrückt ein umständliches) Problem gibt es bereits eine Lösung. Das Ausfüllen einer Steuererklärung ist kompliziert. Zuerst muss man sämtliche Ein- und Ausgabenrechnungen sammeln, diese verschieden Kategorein zu ordnen, Freibeträge herausrechnen und dann das Kilometergeld dazu rechnen, oder so ähnlich. Für mich ist das etwas kompliziert, deshalb hole ich mir diesbezüglich Unterstützung von einem Experten, der über das entsprechende Fachwissen verfügt – einen Steuerberater. Komplizierte Probleme lassen sich durch Experten*innen lösen.

Bei einem komplexen Problem handelt es sich (meist) um eine neuartige Herausforderungen deren Lösung noch nicht bekannt sind – Stichwort VUCA. Dazu zählen jegliche Art von Prognosen, seien es die Entwicklung der nächsten Quartalszahlen, der Umsatzentwicklung oder die Wetterprognose. Man hat eine Reihe von Variablen, ein oder mehrere Vorhersagemodelle und im Idealfall noch so etwas wie Eintrittswahrscheinlichkeiten. Dies ist oftmals unbefriedigend und es wird auf den wichtigsten Faktor vergessen, dem Faktor Mensch. Der Mensch kann mehr als nur rationale Modelle erarbeiten und überprüfen. Otto Scharmer weist in der Theorie U auf die „four Levels of listening“ hin, und meint damit vier Ebenen des Zuhörens und des Wahrnehmens.

Im Folgenden gibt es einen kleinen Exkurs zur Theorie U. Wer sich noch nicht so intensiv mit der Theorie U beschäftigt hat, oder auch zur Auffrischung, dem sei der folgende Abschnitt inkl. dem Original-Video von Otto Scharmer empfohlen.

Ein kleiner Exkurs: Theorie U – 4 Ebenen des Zuhörens

Die Theorie U kann einerseits als Prozessmodell für Entwicklungen gesehen werden, andererseits auch als Rahmenmodell für die 4 Ebenen des Zuhörens. Dieser Beitrag richtet den Fokus auf die Ebenen des Wahrnehmens und Zuhörens.

Oftmals reicht dies nicht aus, und man braucht andere Herangehensweisen, welche auf Vertrauen und Zukunftsgerichtetheit basieren. Leading from an emerging future – Von der Zukunft her führen. Ein zentraler Baustein dabei ist das Zuhören zu lernen, ja Sie haben richtig gelesen: dem Zuhören kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Vorweg muss erwähnt werden, dass man nicht automatisch im „Zuhör-Modus“ ist. Man kann auch im „Weghör-Modus“ unterwegs sein, einige Beispiele:

  • man davon überzeugt ist alles zu wissen, und braucht daher auf die Einschätzung (nicht Meinung) von Experten*innen nicht
  • Wenn etwas schief geht, ist es wichtiger einen Schuldigen zu finden als der Ursachen auf den Grund zu gehen
  • Oder man will einfach nicht wahrhaben, dass etwas nicht rund läuft oder man etwas nicht weiß.

Kommen wir nun zu den vier Ebenen des Zuhörens:

  • 1   Downloading
  • 2   Seeing
  • 3   Sensing
  • 4   Presencing
Theorie U in der Praxis
1. DOWNLOADING: Anleitungen und Checklisten
Das Downloading bildet die erste Ebene des Zuhörens, und eignet sich gut für wiederkehrende Prozesse und Routinen mit bekannter, wenig variierender Komplexität, die sich gut in Checklisten, Anleitungen o.ä. zusammenfassen lassen. Zwischenfazit: Downloading reicht vom „wissen wir schon“, „haben wir gleich“ bis hin zum „haben wir bereits gelöst, hier ist die Anleitung“.

Beim Downloading liegt eine „Ich-in-mir“ Feldstruktur vor, und der Fokus der Aufmerksamkeit bleibt innerhalb der Grenzen der eigenen Organisation. Höflichkeitsfloskeln, regelkonformes Vorgehen und eine hierarchische Vorgehensweise stehen im Mittelpunkt des täglichen Handelns.

Stimme des Urteils: „Das haben wir immer schon so gemacht.“
Nachdem man sich auf eine gemeinsame Intentionsbildung geeinigt hat, ist in einen Entwicklungsprozess gestartet. Auf dem Weg zur zweiten Ebene steht die Stimme des Urteils im Weg. Wenn man stets bei den alten Mustern und Denkgewohnheiten nicht ändern will, bleibt man auf der ersten Ebene hängen, weil „das haben wir immer schon so gemacht“. Neue Informationen (auf rationaler Ebene) werden genauestens geprüft, bis eine Begründung gefunden wird, warum man diese nicht integrieren kann. Entweder ist die neue Lösung noch nicht gut genug, oder diese wird nicht angenommen, weil diese von einer anderen Abteilung oder Organisation entwickelt wurde, und daher nicht gut sein kann (Not-Invented-Here-Phänomen). In beiden Fällen tragen die eigene Unsicherheit, der geringe Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit und das geringe Vertrauen in die Lösungen anderer dazu bei, dass diese Schwelle nicht überschritten werden kann.
2. SEEING: Öffnung des Denkens
Diese Art des Zuhörens konzentriert sich vor allem auf Daten und Fakten. Beim kommunikativen Handeln auf der zweiten Ebene, beim Seeing, nimmt man bewusst Unterschiede und Widersprüche zum Gewohnten wahr, und versucht diese mit gewohnten Mustern zu verknüpfen. Es findet eine sachliche Auseinandersetzung über Daten und Fakten statt, und es kommt zu einem Öffnen des (logischen) Denkens. Durch Aussagen wie z.B. „Kann nicht sein“ oder „Das stimmt nicht mit unseren Modellen überein. Wir haben ganz andere Zahlen.“ kommen Widerstände zum Ausdruck, und es wird die Stimme des Urteils hörbar.

Beim Seeing liegt eine „Ich-in-Es“ Feldstruktur vor, und der Fokus der Aufmerksamkeit wandert an die Grenze der eigenen Organisation. Man geht zum Fenster (zur Grenze der eigenen Organisation) und schaut hinaus, wie das die anderen machen. Es beginnen differenzielle Konfrontationen in Form von Debatten, und man wagt zu sagen, was man denkt und beim Öffnen des Fensters sieht. Bei der Öffnung des Denkens steht daher die Auseinsetzung mit den eigenen Strukturen und Prozessen im Mittelpunkt. Die Marktteilnehmer*innen versuchen sich durch einen Wissensvorsprung – im Sinne einer Best-Practice – einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Die vorherrschende Marktlogik ist die Auffassung, dass eigene Gewinne nur auf Kosten der Konkurrenz erzielt werden können.

Stimme des Zynismus: „Das funktioniert sicher nicht, daher brauchen wir gar nicht weitermachen“
Die Stimme des Zynismus verhindert ein tieferes Eindringen in einen schöpferischen Gestaltungsprozess. Zynismus und ähnliche Reaktionen können ein Schutzmechanismus sein, um sich nicht emotional in eine Sache vertiefen zu müssen und sich distanzieren zu können.

Manchmal bleibt man aber auch beim „logisch ist es ja noch erklärbar, aber …“ bzw. dem Klassiker „das funktioniert sicher nicht, daher brauchen wir gar nicht weitermachen“ hängen. Die Stimme des Zynismus lässt auch deutlich erkennen, dass wir an der Grenze der eigenen Logik, an der Grenze der eigenen Organisation sind. Ein Überschreiten dieser Grenze kommt auch einem Verlassen der eigenen Komfortzone gleich. Selbst wenn man ein gutes Gefühl hat, sich weiter auf einen Entwicklungsprozess einzulassen, wird man oft von Vorschriften und Regel der eigenen Organisation eingeholt. „Bis hierhin kann ich es logisch argumentieren und vor allem verteidigen. Also lieber nicht entscheiden als falsch.“ Gigerenzer (2008) spricht in diesem Zusammenhang von defensiven Entscheidungen. Man entscheidet sich für die besser argumentierbare Option A, obwohl einem die Intuition sagt, dass Option B wahrscheinlich günstiger und effektiver ist. Bei defensiven Entscheidungen trifft man demnach „Lieber nicht die beste Option, als eine die ich nicht logisch argumentieren kann.“

3. SENSING: Öffnung des Fühlens
Das Zuhören in der dritten Ebene setzt die Fähigkeit zur Empathie voraus. Wenn es gelingt sich in die Perspektive der/des Anderen hineinzuversetzen, ist dies ein Anzeichen, dass man (möglicherweise) bereits auf der dritten Ebene angelangt ist. Ein höfliches jedoch floskelhaftes „Ich kann dies gut nachvollziehen, wie es Ihnen/Dir geht, aber …“ erfüllt demnach noch nicht die Kriterien des empathischen Zuhörens. Solange ein „Aber“ dabei ist, heißt dies, dass man dies zwar sein Gegenüber akustisch wahrgenommen hat, jedoch noch auf dem eigenen Standpunkt stehengeblieben ist (Anm.: Dies muss nicht bewusst oder gar boshaft sein). Bei einem authentischen und offenen „Ich kann gut nachvollziehen wie Ihnen / Dir geht, UND wie geht es Ihnen/Dir damit?“ hingegen, scheint der Perspektivenwechsel gut gelungen zu sein. „In den Schuhen des Anderen gehen“ oder „mit den Augen des Anderen sehen“ sind passende Bilder dazu.

Beim Seeing liegt eine „Ich-in-Dir“ Feldstruktur vor. Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt außerhalb der eigenen Person und der eigenen Organisation. In anderen Worten: Man schaut gemeinsam mit anderen von außen auf die eigene Person oder Organisation drauf. Man unterstützt sich dabei das eigene Handeln zu reflektieren, und blinde Flecken aufzudecken. Das Konkurrenzdenken ist überwunden, und das Lernen mit der Unterstützung anderer steht im Vordergrund. Die Beziehungen der einzelnen Stakeholder, das größer werdende Vertrauen ermöglichen einen Dialog auf Augenhöhe. Es werden neue Prinzipien der Zusammenarbeit ausgehandelt.

Für einen Dialog auf der dritten Ebene braucht man partizipative Sicherheit bzw. psychological safety. Darunter versteht man, dass man darauf vertrauen kann, alles sagen zu dürfen ohne dabei in eine Verteidigungsposition gedrängt zu werden oder gar ausgelacht zu werden. Die partizipative Sicherheit kann auch als Metapher für Klima des Vertrauens gesehen werden. Im Dialog rücken aktives Zuhören (ohne vorauseilende Erklärungen und Bewertungen), das Zulassen über Gefühle und Emotionen zu sprechen, Feedback im Form von Ich-Botschaften und die bewusste Unterscheidung in den Interpretationsebenen (Beschreiben, Erklären, Bewerten) – sowie der Versuch möglichst lange auf der Beobachtungs- und Beschreibungsebene zu bleiben – in den Mittelpunkt. Oftmals sind ein Rückgang der Lautstärke und ein Ansteigen einer Spannung im Raum wahrnehmbar.

Stimme der Furcht: „Eigentlich möchte ich ... , aber ....“
Die Stimme der Furcht [1] ist die letzte und oftmals schwierigste Hürde auf dem Weg zum Presencing. Man glaubt den eigenen Zynismus überwunden zu haben, und dann bekommt das Wort „aber“ die zweite Luft. „Eigentlich möchte ich Webdesigner werden, aber ob das Internet ausgerechnet auf mich gewartet hat?“, „Eigentlich wollte ich immer schon ein Buch schreiben, aber mich nimmt ja kein Verlag.“ Das „eigentlich-aber“ ist also eine sehr mächtige Wortkombination, welche auch eine Schutzfunktion erfüllt. Sie schützt uns vor Enttäuschungen, Fehlschlägen, vor dem Scheitern – und sie schützt uns vor möglichen Erfolgserlebnissen. Kulturell gesehen haben wir im deutschsprachigen Raum einen Nachteil: Scheitern wird mit „du hast verloren“ und „wer einmal verloren hat, schafft es beim zweiten Mal auch nicht“ gleichgesetzt. Scheitern könnte auch positiver konnotiert sein, wie z.B. im Silikon Valley – „Es hat zwar nicht funktioniert, aber das ist doch der, der das mit den … probiert hat.“ Vielleicht braucht es zur Überwindung der Stimme der Angst die eine oder andere Inspiration, positive Unterstützung aus dem sozialen Umfeld (wie z.B. KollegInnen, FreundInnen, PartnerIn, Familie).

Vielleicht ist es hilfreich den Satz statt mit „aber“ mit „und“ zu vervollständigen. Vielleicht hilft ein „was ist, wenn doch“ oder ein „was ist, wenn ja“. Kommen wir noch kurz zum „eigentlich“. Das deutet darauf hin, dass man es „eigentlich“ schon weiß, nur sich noch nicht traut. Fazit: Wenn man die Stimme der Angst überwindet, könnten die Vorsätze „Eigentlich wollte ich immer schon ein Buch schreiben, UND ich werde einen Verlag finden.“ oder „Eigentlich möchte ich Webdesigner werden, und ich werde als erstes wordpress ausprobieren.“ lauten, UND der Weg zum Presencing wird geöffnet.

[1] In Scharmer (2015) wird die „Voice of fear“ mit der „Stimme der Angst“ übersetzt. Sowohl gründliche Abwägung als auch für mein Bauchgefühl ist die Übersetzung „Stimme der Furcht“ stimmiger. Furcht wird durch eine konkrete Bedrohung („Ich könnte beim Klettern abstürzen.“) ausgelöst, und hat Vermeidungs- oder Verteidigungsstrategien zur Folge. Angst ist im Vergleich dazu wesentlich diffuser und oftmals ohne konkrete Bedrohung („Angst vor Ansteckung durch die Vogelgrippe.“). Im Sinne der Theorie U steht das Überwinden und Loslassen („Soll ich wirklich den nächsten Schritt wagen, soll ich wirklich loslassen.“) im Vordergrund. Daher plädiere ich für die Übersetzung „Stimme der Furcht“.
4. PRESENCING: Öffnung des Willens
Im Presencing könnte daher das Sprichwort „Wenn Du es eilig hast, gehe langsam“ in „Wenn Du es eilig hast, versuche die Quelle aufzuspüren“ übertragen werden. Im Presencing ändert sich nicht nur die Sichtweise, die Perspektive. Im Idealfall ist das Ergebnis einer solchen Begegnung, dass wir am Ende nicht mehr dieselbe Person sind, die wir zu Beginn des Gesprächs waren. Man agiert auf einem höheren Aufmerksamkeitslevel, und dies ermöglicht uns tiefer an die Quelle unseres eigenen (oder auch organisationalen) Selbst heranzukommen. „Wer möchte ich (wirklich) sein?“ (und nicht welche Rolle möchte ich spielen) und „Wo möchte ich Nutzen und Sinn stiften?“ sind hier die beiden zentralen Fragen.

Beim Presencing liegt eine „Ich-in-Gegenwärtigung“ Feldstruktur vor. Der Begriff „Gegenwärtigung“ ist von englischen Original „Presencing“ abgeleitet. Presencing ist ein Kunstwort und setzt sich aus den Silben Presence (Gegenwart) und Sensing (Hinspüren) zusammen. Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt in der gegenwärtigen sinnlichen Erfahrung, in der Reflexion während des Handelns.

Die besondere Wirkung des Presencing kommt dann zur Geltung, wenn letzte Unsicherheiten abgelegt werden konnten, und die Stimme der Angst restlos verstummt ist. Es braucht auf keine wie immer gearteten Regeln geachtet werden, sämtliche Kostenrechnungen und Excel-Tabellen dürfen Pause machen, Reibereien und Konflikte in der Zusammenarbeit sind geklärt, neue Prinzipien der Zusammenarbeit wurden ausgehandelt und der Begriff Augenhöhe ist keine leere Floskel, letzte Zweifel wurden ausgeräumt und das eigene Ich geht in entstehendes Wir über – ja dann, dann ist es angerichtet:

Für den magischen Moment der Stille – Wie ein weißes Blatt Papier, auf dem man neu beginnen kann.

Die eigene authentische Identität: Who am I? Was sind meine innersten, am tiefsten liegenden Werte. Welche inneren Bilder tauchen dabei auf? Was ist es, das mich / uns ausmacht?

Die eigene Quelle des Handelns: What is my work? Was ist meine Aufgabe? Wo will ich für andere, für die Gesellschaft Sinn stiften? Wozu mache ich das? Was ist mein innerster Antrieb? Was ist für mich sinnstiftendes Handeln?

Für das Eintauchen in die vierte Ebene des Zuhörens – und somit auch für einen gelingenden U-Prozess – sind meiner Ansicht ein Klima des Vertrauens und ein hohes Maß an partizipativer Sicherheit unabdingbare Voraussetzungen. Ein hohes Maß an wahrgenommener partizipativer Sicherheit stellt sicher, dass Organisationmitglieder keine Angst vor möglichen Strafen und Sanktionen haben, sondern im Gegenteil dazu motiviert werden, gemeinsam die eigene Organisation weiter zu entwickeln.

Zum Vertrauensklima gehört auch, dass man zu Wort kommt, wenn ein Gedanke, ein Impuls auftritt oder besser emergiert. Das Team (bzw. die Gruppe) entwickelt eine Gesprächskultur Es mag vielleicht verwundern, jedoch braucht es für ein Vordringen zum Presencing auch Disziplin. Genauer gesagt, die Disziplin der Zurückhaltung nicht bei jedem Diskussionspunkt ein Kommentar oder eine Meinung abgeben zu müssen, geschweige denn den eigenen Standpunkt verteidigen zu müssen. Manche Gruppen helfen sich in der Lernphase (welche auch schon auf Ebene 2 oder 3 beginnen kann) mit einen Kommunikationssymbol, z.B. Stift, Stab oder einem kleinen Ball. Wer das Symbol in der Hand hält, ist am Wort. Er/Sie konzentriert sich auf die wesentlichen Aspekte, und versucht (ausgedehnte) Monologe zu vermeiden. Bei der Disziplin der Zurückhaltung vertraue man einerseits darauf, dass der Gedanke im Raum ist und daher (vielleicht von jemand anderen) ausgesprochen wird, UND dass man die eigenen Gedanken, Ideen, Impressionen hinzufügen kann.

Literaturtipps:

SCHARMER, Otto (2014) Theorie U: Von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik (3. Aufl.)

SCHARMER, Otto (2018) The Essentials of Theory U: Core Principles and Applications (Taschbuch – englisch)

SCHARMER, Otto (2019) Essentials der Theorie U: Grundprinzipien und Anwendungen (Taschenbuch)

Theorie U und die aktuelle Personalentwicklung

Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage: Wie zukunftsfit sind unsere Aus- und Weiterbildungssysteme sowie die Konzepte der Personalentwicklung? In der Überblickstabelle sind

  •  die vier Ebenen des Zuhörens,
  •  die zentrale Logik der Ebene,
  •  die Rolle der Lernenden (Schüler*innen, Studierende, Teilnehmer*innen, Coachee, etc.),
  •  die Rolle der Lehrenden (also jene die für den Inhalt und die Prozessgestaltung verantwortlich sind, wie z.B. Lehrer*in, Professor*in, Trainer*in, Coach, etc.) und
  •  die Beziehungsgestaltung dargestellt.

Die Begriffe in der Tabelle stammen im Original von Otto Scharmer, und wurden von übersetzt und in den Kontext der Personalentwicklung übertragen.

Theorie U in der Praxis

Ebene 1: Downloading von Anleitungen und Standards

Die zentrale Logik der Downloading-Ebene bilden Input und Autoritäten. Damit ist gemeint, dass jeder Schüler einen Standard-Input lernen muss. Was zu diesem Standard gehört wird von Autoritäten (der Schule, der Universität, dem Lehrer, der Professorin, usw.) vorgegeben. Weiters wird die Kompetenz für die Vermittlung dieser Inhalte den Lehrer*innen zugeschrieben, welche folglich im Mittelpunkt stehen:

„Der Lehrer weiß, was richtig ist.“

Ebene 2: Kompetenznachweis durch Zertifikate und Diplome

Die vorherrschende Logik auf der zweiten Ebene ist effizenz- und outputgetrieben. Der Nachweis von Wissen und Kompetenz erfolgt durch bestandene Tests. Wer ein standardisiertes Prozedere (z.B. Curriculum, Studienordnung, Gesetzesbestimmungen, Normierungen durch internationale Verbände, usw.) erfolgreich bewältigt, erhält eine Bestätigung in Form eines Zertifikat, Diplom, Eintrag in eine Liste oder ähnliches. Dieses Prozedere ist sicher tauglich, um nachzuweisen, dass eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt über ein bestimmtes Fachwissen verfügt hat.

„Das kann ich nachweisen!“

Jedoch bleibt bei den Zertifikaten offen, ob die Stimme des Zynismus „Das kommt in unseren Standards nicht vor, daher brauchen wir gar nicht weitermachen.“ überwunden werden kann.

Ebene 3: Im Zentrum stehen die Fragen der Lerndenden

In der dritten Ebene des empathischen Zuhörens stehen die Fragen der Lernenden im Mittelpunkt. Dazu ist ein gewisses Maß an Fachwissen und Kompetenzen (Know-How) in einem Themenbereich notwendig, um inhaltlich am Dialog teilnehmen zu können. Dies muss aber nicht durch ein Zertifikat nachgewiesen werden. Ab der dritten Ebene verliert die Konkurrenzlogik an Bedeutung, und es ist nicht mehr wichtig eine Diskussion zu gewinnen. Zunehmend werden die sozialen und kommunikativen Kompetenzen wichtiger, um einen Dialog  auf Augenhöhe führen zu können. Dazu zählen z.B. aktives Zuhören und Antworten in Form von Ich-Botschaften. Auch die Rolle des Trainers (bzw. des Vortragenden) wandelt sich hin zum Moderator und Faciliators. Neues Wissen entsteht durch einen empathischen Dialog und wechselseitiges Feedback. Die Dialogteilnehmer*innen müssen jedoch dazu bereit sein, ihre Einstellungen in Frage zu stellen und ihre eigenen Standpunkte zu verlassen. Es geht also darum, die Stimme des Zynismus „Das ist eine nette Anregung, aber es funktioniert ja eh nicht.“  zu überwinden.

Wie gut ein Austausch auf der dritten Ebene funktioniert, ist von den kommunikativen Kompetenzen des schwächsten Mitglieds und dessen Bereitschaft auf einen empathischen Dialog einzulassen abhängig. Oftmals sind hier vorgegeben Dialogformate wie die Kollegiale Fallberatung sehr hilfreich.

„Das habe ich / haben wir gelernt“

Beobachtungen aus der Praxis: Es gibt Settings und Formate, welche (eigentlich) auf Ebene 3 abzielen. Dazu zählen z.B. BarCamps oder auch die Kurzversion davon, die so genannten Meetups. Ein/e Teilnehmer*in stellt dabei durch einen kurzen Input ein Thema vor, und danach wird diskutiert. Es werden fachliche Meinungen ausgetauscht, man erklärt sich gegenseitig warum etwas (nicht) funktioniert, und so weiter. Es ist oftmals ein Wettstreit der Ideen, und weniger ein empathischer Dialog. Die im Alltag vorherrschende Konkurrenz-Logik hindert die Teilnehmenden an einem echten Dialog, und das Austauschformat „rutscht“ auf Ebene 2 – dem konkurrierenden Austausch von Argumenten – zurück.

Auf dem Weg zur vierten Ebene gilt es die Stimme der Furcht (Voice of fear) zu überwinden. Auf individueller Ebene sind Selbstreflexion und Selbsterfahrung, kommunikative Kompetenzen (z.B. Ich-Botschaften) sowie ein gewisses Maß an Disziplin der Zurückhaltung von Vorteil. Man vertraut darauf, dass der Gedanke im Raum ist und daher (vielleicht von jemand anderen) ausgesprochen wird, UND dass man die eigenen Gedanken, Ideen, Impressionen hinzufügen kann. Ebenso versucht man, die Gedanken fokussiert zu kommunizieren und Monologe zu vermeiden. Auf Gruppenebene ist ein hohes Maß an Vertrauen und an partizipativer Sicherheit (psychological safety) unbedingte Voraussetzung. Weiters ist das räumliche Setting nicht zu unterschätzen – immerhin gilt es ja auch einen Raum des schöpferischen Gestaltens zu schaffen.

Ebene 4: Presencing – Learning from the emerging future

Die vierte Ebene des Lernens ist durch ein sehr tiefgehendes Level an Achtsamkeit gekennzeichnet. Scharmer bezeichnet dies als „Presencing“, die Quelle des eigenen Denkens und Handelns aufspüren. Presencing ist ein Kunstwort und setzt sich aus den Silben Presence (Gegenwart) und Sensing (Hinspüren) zusammen. Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt in der gegenwärtigen sinnlichen Erfahrung, in der Reflexion während des Handelns. Auf der vierten Ebene geht es um mehr als fachliches Wissen (Ebene 2) und die empathisch-kritische Auseinandersetzung damit (Ebene 3), sondern um gemeinsame Entstehen-lassen von zukünftigen Projekten. Vor allem geht es dabei die Kompetenz zu entwickeln (und auch anwenden zu können), sich gemeinsam mit anderen auf den beiden Kernfragen einzulassen und Neues entstehen (emergieren) zu lassen:

Werte und Identität: Was macht mich aus? (im Original: Who am I ? Who are we?)

Visionen und Sinn: Wozu machen wir das? Wofür und für wen möchten wir Nutzen stiften?

Auf dem Weg zur vierten Ebene gilt es die Stimme der Furcht (Voice of fear) zu überwinden.

Auf individueller Ebene sind Selbstreflexion und Selbsterfahrung, kommunikative Kompetenzen (z.B. Ich-Botschaften) sowie ein gewisses Maß an Disziplin der Zurückhaltung von Vorteil. Man vertraut darauf, dass der Gedanke im Raum ist und daher (vielleicht von jemand anderen) ausgesprochen wird, UND dass man die eigenen Gedanken, Ideen, Impressionen hinzufügen kann. Ebenso versucht man, die Gedanken fokussiert zu kommunizieren und Monologe zu vermeiden. Auf Gruppenebene ist ein hohes Maß an Vertrauen und an partizipativer Sicherheit (psychological safety) unbedingte Voraussetzung. Weiters ist das räumliche Setting nicht zu unterschätzen – immerhin gilt es ja auch einen Raum des schöpferischen Gestaltens zu schaffen.

Beobachtungen aus der Praxis: Als Trainer (und auch als Teilnehmer) in der Erwachsenbildung habe ich schon viele räumliche Settings erlebt. Ich bin nach wie vor erstaunt – oder eigentlich erschreckt, wie weit verbreitet das klassische Schulsetting noch ist. Also vorne Tafel oder Beamer, dahinter in Reih und Glied die „Schulbänke“. Noch mehr erstaunt und erschreckt mich, wie widerstandlos dies von den Lernenden und auch von den Lehrenden hingenommen wird. Manchmal gibt es die verschärfte Variante: Die „Rien ne va plus-Bestuhlung“. Die „Nichts geht mehr-Bestuhlung“ besteht aus klassischem Schulsetting (z.B. drei Reihen mit je 6 Plätzen) welche jeweils mit einem Desktop-PC mit Fixverkabelung und 24 Zoll-Monitoren. Also doppelt gemoppelt, sowie Thujen und Zaun. Da „freut“ (Achtung Sakarmus) das Trainer*innen-Herz … Ich habe es trotz dieses „suboptimalen“ Settings meist auf Ebene 3 und in Ausnahmefällen auf Ebene 4 geschafft. Im Normalfall sind eine variable Bestuhlung, verschiebbare Tische, Platz zum Aufhängen der Ergebnisse (also Wände wo man Flipcharts hinpicken kann), funktionierende Stifte und etwas Kreativmaterial (wie z.B. Fotokarten) schon eine sehr gute Voraussetzung.

Auf der Ebene 4 ändern sich sowohl die Rollen der Beteiligten. Vom Lehrer-Schüler-Verhältnis wie auf Ebene 1 ist man mittlerweile weit entfernt. Die Rolle des Lehrenden wird mehr und mehr zum Prozessgestalter der die Teilnehmenden dabei unterstützt auf Ebene 3 und 4 vorzudringen. Dabei mutiert der „Lehrende“ vom Prozessgestalter, Moderator, Expeditionsleiter bis hin zum Geburtshelfer. Nach der Überwindung der Stimme der Furcht erschaffen alle Beteiligten („Lehrende“ und „Lernende“) eine wert- und sinnorientierte Vision als Grundlage für zukünftiges Prototyping und Performing sowie zukünftiges Handeln.

„Wir waren wie in einer anderen Welt, und haben diese geile Idee in die (unsere) Welt gebracht!“

Abschließende Betrachtungen

In der Beobachtung des aktuellen Personalentwicklung (und damit auch dem Aus- und Weiterbildungsmarkt) stehen Diplome und Zertifikate im Mittelpunkt. Diese testgetriebene Logik bleibt somit auf Ebene 2 hängen: „Jede/r kann und darf das machen, wofür er/sie einen Nachweis erbringen kann.“ In diesem System werden die Handlungsspielräume von Lehrenden UND von Lernenden eingeschränkt. Die Lehrenden (bzw. Bildungs- und Trainingsinstituten) müssen ihre Angebote so konzipieren, dass diese am Ende mit einem Zertifikat abschließen. Auch aus Teilnehmer*innen-Perspektive bleibt dieser im Fokus. Dabei bleibt es sekundär, ob der Zertifikats-Erwerb aus Eigeninteresse oder vom Arbeitgeber*innen intendiert wurde.

Was kann die Personalentwicklung von der Theorie U lernen?

Logik der Wissensvermittlung: Bislang war die zentrale Logik, dass man etwas weiß, wenn man es nachweisen kann (durch ein Diplom oder Zertifikat z.B.). Dies wird sehr oft durch schriftliche Tests abgeprüft, und es sind somit Gedächtnisübungen in mehr oder minder großem Ausmaß. Es stellt sich die Frage, ob diese Logik noch zeitgemäß ist? Also weg von „Ich habe so-und-so-viel (auswendig) gelernt.“ Und hin zum „Ich habe mich so-und-so-viele Stunden mit diesem Thema und dieser Fragestellung beschäftigt.“

Rolle der Lehrenden: In der Ebene 2 kann sich der Lehrende auf das Lehren von Fachwissen konzentrieren, damit die Lernenden am Schluss eine Prüfung zur Zertifizierung bestehen. Im Übergang zu Ebene 3 wandelt sich die Rolle der Lehrenden hin zum Moderator und Facilitator. Auf dem Weg zum Presencing (Ebene 4) wird der Lehrende zum Prozessgestalter und Geburtshelfer.  der die Lehrenden dabei unterstützt die Stimme der Furcht zu überwinden.

Rolle der Lernenden: Auch diese Rolle ändert sich. Die Lernenden wandeln sich vom passiven Zuhörer (Ebene 1), Wissenswiedergeber (Ebene 2), aktiven Fragesteller (Ebene 3) hin zum schöpferischen Gestalter (Ebene 4).

Beziehungsgestaltung: Für die Öffnung des Fühlens (Sensing) braucht es einerseits soziale Kompetenzen auf Individualebene, allen voran das Beherrschen von aktivem Zuhören und Ich-Botschaften. Anderseits braucht es auch auf Team- und Organisationsebene eine Vertrauenskultur, in der ein Dialog auf Augenhöhe entstehen kann. Dazu braucht man partizipative Sicherheit (bzw. psychological safety). Darunter versteht man, dass man darauf vertrauen kann, alles sagen zu dürfen ohne dabei in eine Verteidigungsposition gedrängt zu werden oder gar ausgelacht zu werden.

Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann die Stimme der Furcht überwunden werden und die Öffung des Willens findet statt. Im Presencing ändert sich der Fokus der Aufmerksamkeit, es wird meist etwas stiller und man kann (gemeinsam) sämtliche Bedenken hinter sich lassen. Dies ermöglicht, alte Denkmuster los zu lassen, Neues kommen und entstehen zu lassen.

Schlussendlich bietet die Theorie U sehr gute Anregungen für eine erfolgreiche Personalentwicklung. Ich freue mich über Ihre Rückmeldungen, und stehe Ihnen sehr gerne für ein kostenloses Erstgespräch zur Verfügung.